Sitzungen mit Agathe

Er ist zweiundsiebzig und Psychiater in Paris. Es sind die 1930er Jahre und er hat noch fünf Monate zu arbeiten, ehe er in den Ruhestand geht. Noch sechshunterachtundachtig Sitzungen. Neue Patientinnen nimmt er nicht mehr auf, bis Agathe kommt und seine Pläne durcheinanderbringt. In Anne Cathrine Bomanns Roman Agathe beginnt ein alter Mann sein Leben zu ändern.

Foto © Karolin Kolbe

Agathe Zimmermann ist jung, verheiratet und suizidgefährdet. Fürs Studium kam sie von Deutschland nach Frankreich, doch jetzt sieht sie keinen Sinn mehr in ihrer Existenz und gibt sich selbst eine letzte Chance: sie sucht den Psychiater auf. Er versucht sie abzuwimmeln, will kurz vorm Ruhestand nicht noch eine Frau behandeln, deren Probleme er nicht ernstnehmen kann. Doch Agathe hat ihn ausgewählt. Nach kurzem Zögern fügt er sich ihrer Beharrlichkeit. Sie soll seine letzte neue Patientin sein.

Ich wies auf die grüne Liege, während ich selbst mich in meinen Ledersessel sinken ließ, dessen brauner Bezug so abgewetzt war, dass er an einigen Stellen fast schwarz aussah. „Danke, aber zuerst müssen Sie mir versprechen, mich nicht mehr mit Madame Zimmermann anzusprechen. Bitte nennen Sie mich Agathe.“ Es war nicht üblich, verheiratete Patientinnen mit ihrem Vornamen anzureden, doch es konnte wohl kaum schaden, ihrem Wunsch nachzukommen.

Und so beginnen die Sitzungen mit Agathe. Der Psychiater bemerkt bald, dass er anfängt, über sein tägliches „Hmhm“ und „Aha“ hinauszugehen. Die Gespräche verändern ihn. Agathe schleicht sich in seine Gedanken und ihre entlarvenden Bemerkungen bleiben nicht ohne Folge. Er ist es, der Agathe helfen soll, doch es ist sie, die ihn aufweicht. Das Buch gibt Einblicke in Sitzungen mit einer Vielzahl seiner Patientinnen. Ob sie sich über ihre faulen Ehemänner beschweren, oder darüber, dass sie beim Kauf von Handschuhen um Geld betrogen wurden: er nimmt keine ernst, empfindet bei keiner ein Gefühl. Agathe ist die Ausnahme. Und so kommt er nicht länger drumherum, über sein eigenes Leben nachzudenken. Seine Einsamkeit, sein Desinteresse an den Frauen, die seine Praxis besuchen, sein immergleicher Tag. Wahrheiten, vor denen er jahrelang die Augen verschloss, prasseln jetzt unbarmherzig auf ihn ein. Es dauert ein paar Kapitel, doch dann realisiert er, dass ihm jegliche Beziehungen zu Menschen verloren gegangen sind.

Mein letztes normales Gespräch lag inzwischen so weit zurück, dass es schmerzte, daran zu denken. […] Unterwegs versuchte ich mich davon zu überzeugen, dass ich jemand war. Dieses Projekt mag bizarr erscheinen, aber einem Mann können tatsächlich Zweifel daran kommen, wer er ist. Mir waren weder Familie noch Freunde geblieben- um als solche zu gelten, musste wohl ein gewisser Kontakt-, bestehen, und abgesehen von einem unkultivierten Interesse an klassischer Musik, lag mir wenig mehr am Herzen als guter Tee sowie der Anspruch, meine Arbeit ordentlich zu erledigen. Und selbst damit ging es spürbar bergab.

Agathe stößt in ihm etwas an, was er nicht mehr kannte: er sieht, was ihn umgibt. Seine Straße, seine Praxis, seine Wohnung mit den geerbten Möbeln seiner Eltern. Plötzlich entwickelt er Interesse an den Menschen, die mit ihm im Haus leben. Trotz großer Berührungsängste unterstützt er den todkranken Mann seiner Sekräterin, die er bis dahin dreißig Jahre als Inventarstück seiner Praxis wahrnahm. Und die ihren Chef mit seinen neuen Ambitionen kaum wiedererkennt. Er versucht sich beim Kuchenbacken – etwas Neues, sein Abenbrot besteht sonst aus Brot und Schinken. Der innere Countdown seiner verbleibenden Arbeitssitzungen verblasst unter dem Eindruck der faszinierenden Agathe. Bis zu diesem Punkt begrüßt man als Leserin seine Entwicklung, doch dann kommt ein Moment hinzu, der ein mulmiges Bauchgefühl auslöst. Der Psychiater beginnt, ihr heimlich in das Leben außerhalb der Praxis zu folgen. Er wird zum Voyeur, der sich gleichsam dafür schämt. Wie kann er Menschen helfen wollen, wenn er jegliche Professionalität verliert?

 

Trotz allem Hoffnung

Das Debut der Dänin Anne Cathrine Bomann behandelt Einsamkeit und Depression und kommt doch leicht daher, wie der Vogel auf dem blauen Cover. Die Sprache ist altmodisch und gewählt. Die Autorin scheint einen genauen Blick dafür zu haben, was sie in wenigen Worten ausdrücken möchte. Ein kleines feines Buch, das sich sehr schnell liest und trotz der kurzen Kapitel und geringen Anzahl von knapp 160 Seiten einen Einblick in das bedrückende Leben des alten Psychiaters bietet. Die beiden Hauptfiguren werden mit wenigen Strichen skizziert und mehr als einmal wünscht man sich, noch mehr über sie zu erfahren. Besonders Agathe bleibt den Lesern und Leserinnen fremd, lernt man sie doch fast ausschließlich auf dem Divan des Psychiaters und nicht in ihrem privaten Umfeld kennen. Doch das Buch scheint nicht das Ziel zu haben, hier tiefer zu gehen. So entsteht der Eindruck, dass manche Gedankengänge, Stimmungsumschwünge und Lösungen zu einfach sind. Aber möglicherweise lässt sich die Geschichte auch eher als Erzählung mit offenen Enden und weniger als Roman lesen. Es bleibt durchweg bei den kurzen Szenen, bei der Innenperspektive des Psychiaters, ergänzt durch Krankenakten von Agathe. Für genug Zwischenraum, um sich eigene Gedanken zu machen und sich dem Eindruck der Tristesse hinzugeben, ist gesorgt. Vielleicht ist die Distanz zu den Figuren und die Kürze aber auch ganz gut, um nicht zu lange in diesem Gefühl zu verharren.

Dennoch: Ein wenig Hoffnung darauf, dass die letzten Jahre des Psychiaters anders werden, als die vorigen, bleibt.

 

Anne Chathrine Bomann: Agathe, hanserblau 2019.

 

Karolin Kolbe
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