Welcome to Hawaii

Kemal Arslan zieht durch das Hawaii, es ist Sommer, es ist heiß in Heilbronn. Er ist erst seit Kurzem wieder aus der Türkei zurück, hier hat er bei einem großen Verein Fußball gespielt, bis er sich den Fuß schwer verletzte. Während Kemal seine Richtung verloren hat und durch die Straßen des Stadtviertels Hawaii zieht, braut sich etwas in der Stadt zusammen und steuert einer großen Eskalation entgegen. Cihan Acars literarisches Debüt ist aktuell, greifbar und ermöglicht einen Blick in das Heilbronner Viertel zwischen Industrie und Plastikgartenstühlen.

Das Hawaii, ein Heilbronner Stadtviertel im Industriegebiet. Foto: Karolin Kolbe

Der Roman beginnt an einem Donnerstag, Kemal ist auf einer Hochzeit, „an einem Donnerstag, weil es günstiger war, als am Wochenende. Willkommen in der Minderheit.“ Zwischen Kachelboden und Autogesprächen hält er es an diesem Tag nicht lange aus, auch wenn man ihm bestätigt, dass er hierhin gehört, ins Hawaii, nach Heilbronn, das mit dem Fußball mag vorbei sein, aber hier könne er es noch weit bringen. Kemal geht und lässt sich treiben, ziellos, so wirkt es erst, doch er scheint ein Prinzip zu haben und sich auf alle Begegnungen einzulassen.

Welcome to Hell Hawaii

Im Hawaii ist Kemal ein bisschen zufällig gelandet. Seine Familie wohnte vorher etwas außerhalb und musste umziehen, auf die Schnelle fanden sie nichts anderes, sodass es sie hierher verschlug.

Über dem Bild steht in roten Flammenbuchstaben: Welcome to Hell. Das Hell ist durchgestrichen, direkt daneben steht Hawaii. Warum das Viertel Hawaii heißt, weiß kein Mensch. Manche meinen, die Amis hätten den Namen eingeführt, also die Soldaten, die früher hier stationiert waren. Andere sagen, dass es ironisch gemeint ist, nach dem Motto: Was für eine miese Gegend, sind wir doch mal witzig und benennen sie nach einem Paradies.

Das Hawaii besteht aus ein paar Wohnblocks, kleinen Rasenflächen, Gartenstühlen aus Plastik, einigen türkischen Cafés, einer Bäckerei, einer Moschee und einer Kirche, alles umgeben von Fabriken.

Eine kleine abgeschlossene Welt im Quadrat, mitten im Industriegebiet.

Hier also stürzt Kemal sich auf die Straßen, schlüpft von einer Episode des Hawaiis in die nächste. Von der Hochzeit in die Bierhölle, wo ihm rechte Parolen entgegendröhnen. Weiter ins Spielcasino, zu einem Bewerbungsgespräch bei dem zwielichtigen Unternehmer Tayfun, zu seiner Ex-Freundin Sina, die er auf dem Höhepunkt seiner Fußballkarriere übermütig verlassen hat. Er schließt sich kurz den Kankas an, den Anführern im Vierteln, und ist dabei, als sie Schutzgeld von einem Imbissbesitzer erpressen.

Zugehörigkeit

Zugehörigkeit ist das große Thema dieses Debüts. Das beginnt schon auf der Hochzeit am Anfang, als der Mann ihm bestätigt: „Du bist einer von uns.“ Auch Hakan und Emre, seine besten Freunde, zeigen ihm immer wieder, dass er dazu gehört: „Der Junge da, der liebt sich wie ein Bruder. Ich lieb dich wie ein Bruder.“ Und zu Sinas reicher Familie, die auf einem Anwesen mit Sicherheitsmaßnahmen und Pool wohnt, gehört er auch. Sinas Bruder Paul liebt ihn und auch Sinas Mutter mag Kemal und lädt ihn zur Silberhochzeit ein: „Er ist wirklich gekommen! Wir haben bis zuletzt gewettet! Mensch, ist das eine Freude!“ Die Kankas haben Interesse an ihm, befreundet ist aber auch mit Rainer, seinem Nachbarn, der ihm Sprudelwasser bringt, als nur noch graue Plörre aus dem Hahn kommt. Kemal ist einer, der überall ein bisschen dazugehört. Doch das macht ihn nicht zufrieden, das merkt auch der alte Oskar und rät:

„Find einen Ort, an dem keiner will, dass du gehst. Nicht mal du selbst.“

Zugehörigkeit war auch in Kemals Kindheit großes Thema, das zeigen seine Erinnerungen. Einmal stahl er kurzzeitig die türkische Flagge seines Vaters, um sie mit seinen Kumpels bei einem Fußballspiel zu schwenken. In Ermangelung einer Vereinsfahne mussten sie auf die Nationalflagge zurückgreifen. So richtig dazugehören, das konnte er mal beim Fußball, doch auch bei dem Türkischen Verein, für den er spielte, bewegte er sich irgendwo in der Mitte.

In der Mannschaftskabine in Gaziantep durfte sich nicht jeder hinsetzen, wo er wollte. Es gab eine klare Anordnung der Gruppen. Im vorderen Teil der Kabine saßen die Einheimischen, hinten saßen die Ausländer und dazwischen wir, die wir von beidem etwas hatten. Sie nannten uns almancı, weil die meisten von uns aus Deutschland kamen. Wenn man einmal durch die Kabine lief, konnte man genau mithören, wie sich fließendes Türkisch zuerst in eine Mischung aus Deutsch und gebrochenem Türkisch und schließlich in Englisch und Spanisch verwandelte.

Zu seinem Jaguar, mit dem er den Unfall hatte, der seinen Fuß und damit seine Karriere zerstörte, hat er, so scheint es, die vertrauensvollste Bindung. Dem Auto erzählt er, was ihn bewegt. Und das Auto antwortet.

Rechte Gewalt überall

Das Thema der Zugehörigkeit, das wird schnell klar, ist auch mit der Absprache von Zugehörigkeit verknüpft. Rechte Gruppen, „Wach auf Heilbronn“ rufen sie in den Straßen, ziehen durch das Hawaii und fordern neben Schweinefleisch in Kitas auch „für jeden toten Deutschen einen toten Ausländer.“ Cihan Acar verweist auf die Gewalttaten von Rechten aus der jüngsten Vergangenheit und verarbeitet sie hier literarisch. Er schlägt Brücken zu den Morden des Nationalsozialistischen Untergrunds, zu der Polizistin, die in Heilbronn vom NSU ermordet wurde. Der Prototyp-Nazi, an den Kemal im Laufe der Geschichte gerät, heißt dann auch noch Uwe. Was Kemal schon sein Leben lang als Alltagsrassismus begleitet, webt Cihan Acar hier ganz nebenbei in seine Erzählung und, das merkt man erst später, führt mit den Erfahrungen und den gegenwärtigen Ereignissen von Gewalt der rechten HWA-Bewegung die Leser*innen auf eine große Eskalation zu.

Das Hawaii und seine Menschen

Cihan Acar schafft es nicht nur, in der schnörkelloser Sprache seines Protagonisten große Themen zu verhandeln, besonders stark ist er auch in der Figurenzeichnung. Großartig der Unternehmer Tayfun, der Kemal eine gefälschte Rolex schenkt oder Heidi, eine Frau über 60, die Kemal ein Halstuch um den Kopf bindet, um eine Wunde zu verdecken. Cihan Acars Debüt und ist ausgefeilt, vielfältig und so aktuell, dass sich beim Lesen an der ein oder anderen Stelle ein Kloß in Hals in Bauch bildet.

Cihan Acar: Hawaii, Hanser Berlin 2020.


Karolin Kolbe
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