Was wir voneinander wissen

„Wie leicht war es doch, eine mögliche Zukunft wegen einer anderen abzubrechen und im Rückblick dessen, was hätte sein können, nur diese dünne zufallsbedingte Linie zu sehen, das Geschehene, das aus der unendlichen und leeren Finsternis des Ungeschehenen aufsteigt.“ Jessie Greengrass hat ein außergewöhnliches Debüt geschrieben über die Kraft von Entscheidung, Erkenntnis, Trauer und der Rolle ihrer Protagonistin im Schatten ihrer Mutter und Großmutter.

Ein Roman über Wahrheit und Erkenntnis. Foto: Karolin Kolbe

Eine Frau zieht zu ihrer schwerkranken Mutter, um sie zu pflegen, zurück in das Haus, in dem aufwuchs, zurück an den Ort, an dem sie stritten, sich versöhnten, lebten.

In den Monaten nach dem ersten Zusammenbruch meiner Mutter, ausgelöst von einer plötzlichen Hirnblutung, die zwar aufgehalten, aber nicht gestoppt werden konnte, schwanden ihr nach und nach die Kräfte und die Sinne.

Die aufgezwungene körperliche Nähe beim Waschen, Helfen, Essen versuchen sie durch emotionale Distanziertheit abzumildern. Die Tochter stößt mit der Pflege ihrer immer schwächer werdenden Mutter an ihre Grenzen. Die Rollen kehren sich um, die Mutter wird zum Kind. Dann stirbt sie und die Tochter macht die Erfahrung der Trauer, ein paradoxes Gefühl, das sie in all seinen Schichten überrascht zurücklässt.

Falls ich mir eingebildet hatte, ich würde keine Trauer empfinden in diesen frostkalten Monaten, die ich einsam in einem leeren Haus verbrachte, dessen Eigentümerin von mir gegangen war, dann wohl deshalb, weil ich mir unter Trauer anderes vorgestellt hatte, etwas, das zugleich größer und geringer wäre, ein Monument oder ein Massiv, etwas Einfaches, das man bezwingen konnte, aber nicht diesen in die reibungslose Kontinuität einsickernden Freiraum.

Jessie Greengrass wählt diese Ausgangsituation und die Auseinandersetzung der Protagonistin mit ihrer eigenen Mutter, ein Einzelkind und Tochter einer disziplinierten Psychoanalytikerin, um über die Idee einer eigenen Mutterschaft nachzudenken. Ein langes Hin und Her beginnt, möchte sie Kinder oder keine, möchte ihr Partner Johannes Kinder, welches Erbe an Erfahrungen mit Mutterschaft bringt sie mit und kann sie diese lebensverändernde Entscheidung wirklich treffen?

Tiefe Gedanken, klangvolle Sätze

Geschickt verknüpft Jessie Greengrass die Kindeitserfahrungen der Protagonistin, in der sie oft ernst und klug sein wollte, in der die Großmutter sie manchmal fast wie eine Erwachsenen behandelte, in der die Mutter immer distanziert blieb und selten ein Stück von sich zeigte, mit der Gegenwart. Die Protagonistin, das erfährt man ganz zu Anfang des Romans, hat sich für Kinder entschieden. Jessie Greengrass verwebt die Erinnerungen und die Gegenwart der Protagonistin mit historischen Ereignissen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns zu einem dichten Netz: Bertha und Wilhelm Röntgen und die Aufnahme der Hand mit dem gut sichtbaren Ehering. Anna und Sigmund Freud und das unverhoffte Erbe der Psychoanalyse an die jüngste Tochter. Zuletzt John Hunter, Anatomie-Forscher, der die Menschen schichtweise auseinandernahm. So zeichnet sie ein Potpourri aus einer individuellen Erfahrung verknüpft mit historischen Figuren und erschafft somit einen vielschichtigen Roman. Ihre Sätze sind lang und klangvoll, gehen manchmal fast über eine Seite. Voller Verständnis für ihre Hauptfigur beschreibt Greengrass einen Prozess des Wollens und Zweifelns, des Liebens und manchmal fast Bereuens, der auch nach der Geburt der ersten Tochter nicht abgeschlossen ist und das Thema Elternschaft von vielen Seiten beleuchtet. Ein Roman, der dahinfließt, vielschichtig, komplex, ein Roman, den man sicher mehrfach lesen kann, um die verschiedenen Ebenen Schritt für Schritt besser zu begreifen.

Jessie Greengrass: Was wir voneinander wissen, Kiepenheuer & Witsch 2020.
Karolin Kolbe
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