Wir leben heute immer in der Zukunft

Am Dienstag las der amerikanische Autor Gary Shteyngart im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals Berlin aus seinem neuen Roman Super Sad True Love Story. Moderiert von Sigrid Löffler und mit Matthias Scherwenikas als Sprecher, gelang der Lesung eine humorvolle Atmosphäre mit einem aufmerksamen und aufgeschlossenen Publikum.

Shteyngarts Buch, das er schon 2006 zu schreiben begann, ist ein Briefroman, in dem der Nerd Lenny sich in die koreanisch-amerikanische Eunice verliebt, die auf hektischen Konsum fixiert ist. Klingt wie eine übliche Liebesgeschichte – aber in diesem Buch geht es um viel mehr. Lenny und Eunice leben in einer Zukunft, in der China die größte Supermacht ist und die USA nur noch ein Imperium im Staub, das kurz vor einer Revolution steht. Nationalgardisten versuchen Ordnung zu halten und die Technologie herrscht über das Leben. Die Amerikaner im Buch unterhalten sich nur noch digital, Livestreams berichten über ihr Privatleben und sie sind davon besessen sich ständig zu messen: Das Aussehen wird mit einem “Fit-Factor” bewertet, die Kreditwürdigkeit wird laufend überprüft, und angestrebt wird die ewige Jugend.  Der Geist von Aldous Huxleys Brave New World ist sehr präsent, aber Shteyngarts Zukunftsszenario kommt uns unheimlich nah – die Insolvenz der USA, zum Beispiel, ist heutzutage keine unrealistische Möglichkeit mehr.

Der Untergang eines Imperiums ist Shteyngart ein persönliches Thema. Geboren in Leningrad und im Alter von 7 Jahren nach Queens, New York City gezogen, erzählte Shteyngart mit einem Grinsen, “Every empire I live in tends to collapse”. Seine Vorliebe für russisch-jüdischen Humor – “the humor of dealing with unmitigated horror…all the time” – wurde  im Testauszug, den zuerst er und später Scherwenikas lasen, bewiesen. In dieser Szene nimmt Lenny Eunice zum ersten Mal zum Haus seiner russischen Eltern mit. Sein Vater, haarig wie “ein tropischer König”, und seine Mutter mit ihrer Wischmop-Sammlung bombardieren das Paar mit Fragen, die hauptsächlich Lennys Arbeit in “posthumanen Dienstleistungen” betreffen.

Shteyngart ist ein wirklich guter Vorleser: Der russisch-amerikanische Akzent der Eltern war perfekt imitiert und die Valley-Girl-Stimme von Eunice mit ihren vielen “Like”-durchgedrungenen Sätzen sehr amüsant. Der Text an sich ist schon lustig, aber durch Shteyngarts Vortrag gewannen die Wörter noch an Authentizität. Auch der Schauspieler Scherwenikas, der zwei Jahre in Moskau studiert hat, war gut zu verstehen – ein kompetenter  Sprecher, der die deutsche Version des Textes mit viel Energie las.

Die Moderatorin Löffler stellte Shteyngart Fragen, die seine lässige und witzige Art beleuchteten. Er scherzte, dass das iPhone sein Leben “komplett zerstöre”, meinte dann aber ernst, dass wir zwar Herrscher dieser Technologie werden wollen – doch die Technologie wird am Ende über uns herrschen. Das Problem mit dem Schreiben über die Gegenwart ist, Shteyngarts Meinung nach, nämlich: “There is no ‘present’ left…we’re living in the future, all the time”. Das stimmt. Aber lasst uns trotzdem hoffen, dass es im Gegensatz zu Lennys und Eunices Welt in unserer Zukunft doch einen Platz für das analoge Ich geben wird!

 

Bild (c) Caitlin Hahn

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