Familienaufstellung in Marschlandschaft

Leona Stahlmann schreibt in „Diese ganzen belanglosen Wunder“ über Mutter-Kind-Beziehungen, Hoffnungen und Ängste vor dem Hintergrund der Klimakatastrophe.

© Steffen Bach

Eine Mutter, ein Sohn, eine verlassene Saline und als einzige Gefährten ein paar schweigsame Seidenhühner. Doch Leda, die Mutter, und ihr Sohn Zeno sind hier nicht gefangen, sind nicht weitab der Zivilisation. Die nächste Stadt liegt ein paar Kilometer flussaufwärts, die Saline ist sogar an das Busnetz angebunden. Warum entscheidet sich das Gespann dann, in den halb verfallenen Gebäuden zu hausen, zwischen Salz, Matsch und Flussgräsern?

Dieser Frage geht Leona Stahlmann in ihrem kürzlich erschienen Roman Diese ganzen belanglosen Wunder nach. Es ist der zweite Roman der Schriftstellerin, die mit ihren vom Nature Writing beeinflussten Texten bereits Erfolg hatte: 2018 gewann sie den Wortmeldungen-Förderpreis, 2022 las Stahlmann auf Einladung von Michael Wiederstein beim Ingeborg-Bachmann-Preis.

So viel zur Autorin, nun aber zurück zu Leda und Zeno. Der Zwölfjährige lebt von klein auf mit seiner Mutter vor den Toren der unbenannten Großstadt, der Fluss verläuft nicht weit vom Haus und mündet dahinter in den ebenso namenlosen Sund. Das brackige Flusswasser bestimmt das Leben hier in der Marsch, das von Überschwemmungen, Dürre und den Jahreszeiten im Wandel bestimmt ist.

Gedankenpaläste und Depressionen

Viel außer den Jahreszeiten gibt es auch nicht, nur die zwei Menschen und ihre Hühner. Dementsprechend haben Sohn und Mutter eine enge, vielleicht zu enge Beziehung zueinander entwickelt. Im Sommer verdienen beide etwas Geld damit, Touristen aus der Stadt durch die Saline zu führen und ihnen abgepacktes Salz zu verkaufen, von dem sie behaupten, es selbst hergestellt zu haben – ein kleiner Seitenhieb auf die Authentizitätsversessenheit des klischeehaft dargestellten Stadtpublikums.

Abgesehen davon ist nicht viel zu tun. Es bleibt viel Zeit, hippiesk herumzuliegen, zu reden, zu träumen und die Hühner beim Picken zu beobachten. Gerade Zeno ist ein Meister darin, sich in seinen Gedankenpalästen zu verlieren. Stahlmann beschreibt diese Träumereien inmitten der morbiden Atmosphäre der Marschlandschaft mit sensibler, genau bemessener Sprache:

„[…] verstehen kann Zeno die Gedichte wirklich nicht, aber schmecken kann er sie, ein Geschmack, der in leisen Räumen […] kräftiger wird, sich verflüssigt, […] hören kann er sie, ein Geräusch wie das Klirren von Chinageschirr auf einem Tablett, winzige Glocken aus Porzellan, durchzogen von den Nerven seiner eigenen Finger.“

(S. 109)

Doch es ist nicht alles idyllisch in der ungleichen Wohngemeinschaft am Fluss. Leda scheint außer Zeno keine anderen sozialen Kontakte zu haben und zieht sich immer wieder tagelang in ihr Zimmer zurück. Es bleibt an Zeno hängen, sich in diesen Zeiten um ihre Versorgung zu kümmern – er lebt in Co-Abhängigkeit mit der depressiven Mutter:

„Leda bleibt den ganzen Tag im Dämmer des Zimmers und steht nicht auf, Zeno bringt Kaffee schwarz, Spiegeleier mit Ketchup, pflückt Fieberklee und stellt ihn in der leeren Flasche aufs Tablett, sie fegt alles herunter, die Flasche zerspringt.“

(S. 33)

In solchen Phasen flüchtet sich die Mutter in Bildbände voller Ölgemälde niederländischer Meister, sie versinkt in den Farben von Ruisdael oder Vermeer und blendet die Welt um sich aus. Zeno liegt dann bei ihr, versucht, Teil ihrer Traumwelt zu sein, und scheitert meist. Daneben vertreibt er sich irgendwie die Zeit: Indem er allein in den Marschen herumstromert oder sich Internetpornographie anschaut. Nicht wirklich eine Bilderbuchkindheit also.

Leben in Zeiten der Katastrophe

Dieser prekäre, aber eingespielte Kosmos aus Mutter und Sohn bildet die Grundlage der Romanhandlung und wird intensiv beschrieben. Eine große Rolle im Leben der beiden Einsiedler spielt außerdem die Klimakatastrophe: Ganz offenbar leben Leda und Zeno in einer Zeit des fortgeschrittenen Klimawandels, in der Jahreszeiten zunehmend ineinander verwischen und der Fluss immer näher an die Häuser steigt.

Wieder und wieder kommen Ledas Ängste zum Vorschein, keine Zukunft zu haben und Zeno dementsprechend auch keine bieten zu können. Es ist die altbekannte Frage: Kann man es verantworten, ein Kind in diese Welt zu setzen? Ihr Umzug in die verlassene Saline erscheint vor diesem Hintergrund wie eine Flucht, ein Abwarten in der Peripherie, bis das Warten endlich ein Ende hat. Bis die Apokalypse, vor der allenthalben gewarnt wird, endlich da ist.

Obwohl also der Fokus fast ausschließlich auf dem ungleichen Paar in der Marsch liegt, wird auch das Leben der Städter:innen in der voranschreitenden Katastrophe immer wieder thematisiert. Zeno macht sich einen Spaß daraus, nachts durch die Vorgärten der nahen Trabantenstadt zu turnen und den Bungalow-Bewohner:innen bei ihrem tristen Leben zwischen Fernseher, Mikrowellenessen und Tinder zuzuschauen. Dies tut er, auch bei Minustemperaturen, am liebsten nackt – ein minderjähriger Stalker. Genau wie bei Zenos Vorliebe für Internetpornographie scheint das nackte Beobachten aber nicht aus sexuellen Gründen zu erfolgen, sondern eher aus einem Interesse am Abseitigen, Seltsamen und geradezu Ekligen.

Schönheit in der Tristesse

Die Innenwelt des vorpubertären Jungen, der in der Katastrophe aufwächst, beschreibt Leona Stahlmann in sehr eindrücklichen, poetischen Passagen. Die emotionale Bürde, die ihm die Klimakatastrophe und seine depressive Mutter zumuten, wird deutlich. Diese bringt Zeno aber nicht dazu, emotional in die Knie zu gehen. Eher entwickelt er einen magischen Umgang mit der Welt, sieht Schönheit in der Tristesse und macht sich Gedanken über das, was in dieser Welt noch wichtig sein kann. Diese Abschnitte gehören ohne Frage zu den stärksten Momenten des Romans.

Leider besteht Diese ganzen belanglosen Wunder aber nicht nur aus solchen Passagen. Gerade die Absätze, in denen Stahlmann die wohlstandsverwahrloste Stadtgesellschaft der fiktiven Welt darstellt, und dabei überspitzt unsere Gegenwart kritisiert, verfallen immer wieder in ärgerlich abgegriffene Sprachbilder.

Mit der kulturkritischen Verve eines pensionierten Oberlehrers wird die Online-Datingkultur verdammt, das Leben in der Vorstadt zwischen Pendelverkehr und Wochenende im Einkaufszentrum spöttisch überzeichnet und die tiefgründige Ehrlichkeit der schwermütigen Marschbewohner dem positiv gegenübergestellt. Diese flache Kulturkritik steuert der interessanten Chemie zwischen Leda und Zeno und der Auseinandersetzung mit Leben und Hoffnung in der Klimakatastrophe nichts bei, sondern schadet der eindringlichen Wirkung des Textes eher.

Zwischen schaler Kulturkritik und poetischer Kraft

Im weiteren Verlauf des Buches stellt sich diese Mutter-Sohn-Beziehung schließlich als zu wacklig heraus, um dem Wechselspiel aus Fluten und Dürre dauerhaft standzuhalten. Leda ist irgendwann nicht mehr da, abgehauen mit einem windigen Typen, den sie in der Marsch kennengelernt hat. Zeno bleibt allein zurück, aber nicht für lang. Er lernt online eine neue Freundin kennen und geht mit ihr eine ganz andere Beziehung ein, als er sie mit seiner Mutter hatte.

Alles in allem hat Leona Stahlmann mit Diese ganzen belanglosen Wunder ein Buch vorgelegt, das mit seiner Thematik kaum näher am Puls der Zeit liegen könnte. Die Klimakatastrophe, Kapitalismuskritik, Regretting Motherhood – fast kein progressives Thema der letzten Jahre wird ausgelassen. Dennoch wirken gerade diese zeitkritischen Passagen oft abgedroschen, und stehen hinter der intensiven Atmosphäre in den Marschen zurück.

Zu voller Stärke gelangt der Text dort, wo er die Innenwelt Zenos und Ledas ausleuchtet oder deren Verhältnis zueinander behutsam und poetisch untersucht. Ein stärkerer Fokus auf den zwischenmenschlichen Beziehungen, Gefühlen und Träumen der Charaktere vor dem Hintergrund der Katastrophe wäre also die bessere Wahl gewesen – denn hier erstrahlt die bemerkenswerte poetische Kraft der Autorin.

Leona Stahlmann – Diese ganzen belanglosen Wunder, 400 Seiten, Hardcover gebunden, dtv 2022, 22,– EUR.

Steffen Bach
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