„Meine drei Großmütter – Lecture. Archiv der flüchtigen Dinge #4“. Ein Gedächtnisprotokoll

Zehn Minuten warten wir vor dem Foyer des HAU2. Andreas Mihan entschuldigt sich für den verspäteten Beginn. Es gab Probleme mit der Technik.

Zwei Stimmen hallen durch das Foyer: Meret Kiderlen fragt ihre Großmutter, Ilse Kiderlen, nach der Bedeutung des Familiengrabs. Es soll aufgelöst werden. Die Antwort ist unklar, die Worte der Großmutter verschwimmen. Sie ist sich nicht sicher.

© Archiv der flüchtigen Dinge
© Archiv der flüchtigen Dinge

Meret Kiderlen sitzt auf einem Stuhl und erklärt den Zuschauern den Grund ihrer Lecture: „Ich erinnere mich, ausgehend von meinen drei Großmüttern. Was haben meine Großmütter gemacht, als sie so alt waren wie ich? Und bin ich deswegen so, wie ich bin?“ Meret dokumentiert Erinnerungen aus dem Leben ihrer Großmütter und verzahnt diese – zwangsläufig – mit ihrem eigenen Leben. „Drei Großmütter. Da ist doch irgendetwas faul“, denke ich. Zur Dokumentation stehen ganz unterschiedliche Mittel bereit: Auf dem Tisch liegt ein Aufnahmegerät, daneben eine Videokamera mit Stativ. Meret filmt sich selbst – der Beamer wirft die Aufnahme live an die Wand.

Meret verlässt erst einmal die Bühne. Warum? Teekochen. Das dauert. Und auf der Bühne passiert nichts. „Ok…?“, raunt mein enttäuschter Sitznachbar, blättert im Festivalprogramm und bleibt auf Seite 55 hängen: Zeichne deinen Sitznachbarn!

Fertig.

Die heiße Teetasse steht auf dem Tisch. Und jetzt passiert was. Meret pinnt eine Klarsichtfolie an die Wand und steckt ein altes Foto von Ilse hinein. Sie streckt ein Foto in die Kamera. Es zeigt ein kleines Mädchen, ein Plakat mit der dicken Aufschrift „Frauen“ vor sich haltend. Das Gesicht des Mädchens wird dabei vollständig verdeckt. „Als kleines Mädchen, noch an der Hand meiner Mutter, auf feministischen Demonstrationen in Frankfurt am Main.“ Meret verteilt früh Flugblätter und kämpft gegen die verschuldete Unmündigkeit des Menschen. Sie zeigt ein Foto ihres Balkons, von dem ein Stofflaken mit der Aufschrift „!“ herunterhängt. Anschließend noch ein Foto von der Großmutter, die eine Gruppe deutscher Mädels auf Gleichschritt drillt.

Jetzt wieder spotlight auf Meret: „In der Performance „Write me“ verkaufte ich für 100€ pro Quadratzentimeter meine Haut. Besucher konnten mich mithilfe eines Tätowierers beschriften lassen. Von 78 Zuschauern kaufte allerdings nur einer einen Quadratzentimeter. Und er ließ mir oberhalb der Brust ein malaysisches Zeichen für ‚Fliege’ eintätowieren.“ Sie kniet sich vor die Kamera auf den Tisch und zieht ihren roten Pullover herunter. Die Kamera kippt. Mit der Technik ist wohl schon wieder etwas nicht in Ordnung.

“Tschuldigung… das Problem ist: Das Ganze unterliegt einem ganz strikten Ablauf und ich kann nicht wieder in der Mitte beginnen. Das heißt – ich muss nochmal von vorne anfangen. Wir machen es so – den O-Ton mit der Großmutter kennen Sie ja schon.“

Also nochmal, nach dem gleichen strikten Ablauf.

Die Großmutter studiert bei Martin Heidegger und flüchtet in den Kriegsjahren nach Ecuador. Eine andere Geschichte? Vier Kinder werden geboren. Meret zeigt das Foto des Mädchens, das Plakat mit der dicken Aufschrift „Frauen“ vor sich haltend. „Ich bin eine gute Tante. Und dieses Foto meiner Nichte Lilith schenkte mir mein Bruder, als ich nach Montevideo ging. Es hängt seitdem über meinem Schreibtisch.“ „Grandios“, denke ich.  Meret promoviert in Gießen. Auf dem Balkon steht ein kleines Mädchen in einem roten Kleid und verschwindet, bevor Meret abknipst. Jorge Luis Borges inspiriert sie, sich ein malaysisches Zeichen für ‚Fliege’ oberhalb ihrer Brust eintätowieren zu lassen. Meret kniet sich vor die Kamera auf den Tisch und zieht ihren roten Pullover herunter. Die Kamera kippt.

Und dann? Meret beginnt von Neuem. Die zweite heiße Teetasse reiht sich ein. Low Battery. „Wo hast du den Akku hin? Scheiße. Tschuldigung…“

Ein junger Mann aus dem Publikum muss den Platz der Kamera einnehmen. Ich spende eine Notizbuchseite und meinen Kugelschreiber: „Du musst mitschreiben! Rec.!“ Danach kann ich mich nicht mehr an Einzelheiten der dritten Version erinnern. Die bruchstückhaften Notizen des Freiwilligen helfen dabei auch nicht gerade weiter. Belassen wir es einfach dabei.

Im abschließenden O-Ton der Großmutter verschwimmen Jahreszahlen und Personen – die Worte auch. „Ich trinke zehn Tassen Tee, dann hab’ ich es raus.“ Wir auch?

„Meine drei Großmütter – Lecture. Archiv der flüchtigen Dinge #4“ mit Meret Kiderlen und Andreas Mihan
100° Festival, 20.02.14, HAU2
Die Lecture entstand aus Meret Kiderlens Abschlussinszenierung am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen und ist Teil des fortlaufenden kollektiven Projekts „Archiv der flüchtigen Dinge“.

Corinna von Bodisco

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