Queerer Schmerz war noch nie so lustig

Viele trans Personen würden ihren alten Namen, den sie abgelegt haben und der oft mit schmerzvollen Erinnerungen verknüpft ist, wohl am liebsten aus den Köpfen ihres Umfelds verbannen. Den deadname nach dem Coming Out weiterhin zu benutzen, ist eigentlich ein absolutes No-Go. Es sei denn, die Person hat selbst ein Buch über das Leben vor diesem Moment geschrieben – ein Buch, in dem die Grenzen zur eigenen Biografie in autofiktionaler Manier verschwimmen.

Wer ihn mit dem Namen Sofie anspricht, muss 10 Cent zahlen: Mit dieser Regel gewöhnte Tobi Lakmaker seine Familie innerhalb einer Woche an seinen neuen Namen. Die Verbindung mit seinem deadname wird er jedoch nicht vollständig auflösen können, denn als er seinen Debütroman schrieb, wurde er noch Sofie genannt, und so heißt auch die Protagonistin in „Die Geschichte meiner Sexualität“. Der Roman erschien im Februar 2021 in den Niederlanden und ging durch die Decke: Tobi Lakmaker wird als Star der neuen, queeren Gegenwartsliteratur gefeiert, die Filmrechte sind bereits verkauft. 2022 erschien der Roman auf Deutsch. 

„Die Geschichte meiner Sexualität“ ist kein Buch über Tobi Lakmakers Coming Out – wobei es natürlich schon darum geht, aber das eigentliche Coming Out, das spart Lakmaker weitgehend aus. Stattdessen berichtet uns die Ich-Erzählerin Sofie von dem, was davor passiert ist. Das liest sich wie ein Tagebuch, und es beginnt mit einem Erlebnis, das recht klassisch ins Format einer Coming-of-Age-Geschichte passt: Sofies erstes Mal mit Walter, oder wie sie selbst es nennt: Ihre S.E., die Solide Entjungferung. Den ersten Sex mit einem Mann findet Sofie Wahnsinn: „Vielleicht nicht im rein positiven Sinn, eher so, wie ein Flugzeugabsturz Wahnsinn ist.“ Auf die Sache mit Walter folgen eine Art Beziehung mit Lusche D. und ein paar belanglose Küsse mit anderen Männern, bis Sofie schließlich checkt, dass sie lieber mit Frauen schlafen möchte. 

Kein „Manic Pixie Dream Girl“

Von nun an geht es drunter und drüber, über Sofies Kopf schweben ganz schön viele Fragezeichen und wir begleiten sie beim Rumprobieren mit ihrer Identität und Sexualität. Einige Zeitsprünge macht man mit in diesem Buch: Sofie erzählt nicht chronologisch, nicht logisch, wobei sie uns als Leser*innen immer mal wieder kurz abholt, indem sie uns direkt anspricht und sich dafür entschuldigt, dass sie eigentlich etwas anderes erzählen wollte, aber ups, jetzt geht’s schon wieder um Sex, irgendwie geht es am Ende ja immer um Sex, oder nicht?

Tatsächlich nicht, denn „Die Geschichte meiner Sexualität“ verhandelt auch ein paar andere große Themen, und stellenweise ist es wirklich eine ganz klassische Coming-of-Age-Geschichte. Zum Beispiel dann, wenn Sofie mit so lakonischer Selbstironie von ihren verwirrenden Liebesabenteuern erzählt, dass es einem ein bisschen das Herz bricht. Als sie mit einer Frau aus ihrer Fußballmannschaft schläft und diese sie nach dem Sex nicht küssen will, sondern sich mit den Worten „Denkst du, das hier ist Blau ist eine warme Farbe?“ von ihr abwendet, endet das Kapitel so:

„Mir war dann eigentlich zum Heulen zumute, aber ich hab’s runtergeschluckt. Manchmal kann man Tränen einfach runterschlucken. Man muss nur ganz schnell an was anderes denken, die Orangetöne der Umkleide 17 zum Beispiel, dann klappt das. Ich bin darin immer besser geworden. Aber das war überhaupt nicht, was ich von Roos lernen wollte, versteht ihr? Manchmal lernt man von Leuten echt die falschen Dinge.“

Witz schlägt Scham: Tobi Lakmaker hat versucht, für diese und viele andere schmerzhafte Erfahrungen eine Sprache zu finden. So ist es ihm gelungen, Humor auf eine Weise mit Queerness zu verbinden, die nicht auf Kosten der queeren Erfahrung geht, sondern sie im Gegenteil erst richtig greifbar macht. Deshalb ist der Humor eine der größten Stärken des Romans: Nicht nur, weil er unterhaltsam ist, sondern weil sich durch ihn das ganze Identifikationspotenzial von Sofies Geschichte entfaltet. Man möchte eigentlich sofort mit Sofie befreundet sein und das eigene Leben von ihr kommentieren lassen.

So intim wie ein Sleepover mit Freund*innen

Haare lang wachsen lassen, mit Männern schlafen, Make-up tragen und all die anderen Dinge tun, um eine „richtige“ Frau zu werden. Mit Frauen schlafen, Fußball spielen, schreiben, reisen und sich immer noch die falschen Fragen stellen. „Die Geschichte meiner Sexualität“ zieht uns als Leser*innen direkt mitten rein ins emotionale Durcheinander, und Tobi Lakmaker hat für das alles wirklich einen ganz eigenen Ton geschaffen. Es kommt vor, dass einem auf ein und derselben Seite erst zum Heulen zumute ist und man gleich darauf lachen muss, weil Sofie es schafft, einen so tragischen Moment wie den Tod der eigenen Mutter voller Situationskomik zu packen:

„Vorletzter Tipp, den ich euch gebe: Verwendet niemals „erinnern“ in einem Text, den alle noch einmal gegenlesen. In unserem Haus brach eine Art Bürgerkrieg aus. Niemand wusste nämlich mit Sicherheit, ob es „wir werden sie erinnern“ oder „wir werden uns an sie erinnern“ heißt. Niemand wusste, ob dieses Verb reflexiv ist, versteht ihr? Naja, es ist tatsächlich reflexiv, und wenn wir an dem Tag bei Sinnen gewesen wären, hätten wir das bestimmt auch gewusst – aber das waren wir halt nicht.“

Bei aller Selbstironie bleibt Lakmakers Art des Erzählens außergewöhnlich intim. Sofie erspart uns keine Details, sie ist zwar keine zuverlässige Erzählerin, aber trotzdem ehrlich. So schafft Lakmaker eine tiefe Verbundenheit zu seiner Protagonistin: Sofie erzählt uns ihre Geschichte so, wie wir sie sonst nur mit unseren besten Freund*innen teilen. Das ist das vielleicht Schönste an diesem Leseerlebnis: Die Punchlines, die hier produziert werden, sind eigentlich auf Gespräche in größerer Runde am Bartresen ausgelegt. Gleichzeitig fühlt sich dieses Buch aber auch an wie die Gespräche, die man führt, wenn man nachts neben jemandem im Bett liegt und eigentlich längst schlafen wollte, es aber noch ein paar Geheimnisse zu teilen gibt.

Tobi Lakmaker: Die Geschichte meiner Sexualität. 2022 erschienen bei Piper. Aus dem Niederländischen übersetzt von Christina Brunnenkamp. 224 Seiten.

Marit Blossey
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